Je weiter die Digitalisierung voranschreitet, desto stärker scheint sich durch beispielsweise Touchscreens eine übermäßige Fokussierung auf den visuellen Sinn herauszustellen. Darunter leiden Menschen mit Seheinschränkungen oder Blindheit. Deshalb haben wir eine Grundlage geschaffen, dass die Zukunft der digitalen Gestaltung niemanden mehr ausschließt und keine Anpassung der Menschen auf ihre Geräte fordert, sondern umgekehrt. Die Thesis “Beyond Visual Design” konzentriert sich auf inklusives Design durch multimodale Interaktion und Anpassung.
Nicht nur blinde Personen sind von Sehbeeinträchtigungen betroffen. Jeder Mensch kommt in Situationen, in denen er visuell eingeschränkt ist. Beispielsweise kann man beim Autofahren aus Sicherheitsgründen möglicherweise nicht auf den Touchscreen des Autos schauen, oder bei der Betreuung von kleinen Kindern kann visuelle Aufmerksamkeit an anderer Stelle erforderlich sein. Daher profitiert jeder von inklusivem Design, das mehrere Sinne einbezieht.
Deshalb haben wir einen neuen Design Standard geschaffen, der als Grundlage für umfassende Inklusivität dient, das Paradigma des rein visuellen Designs durchbricht und Interaktion erweitert.
BEYOND VISUAL STANDARD
Guiding Principles on Accessible Products for the Visually Impaired
Der Leitfaden “Beyond Visual Standard” richtet sich an alle, die an Designprozessen beteiligt sind. Er umfasst 10 übergreifende Leitprinzipien, die eine solide Grundlage für inklusives Design bieten. Darüber hinaus beschreiben 21 Designprinzipien die wichtigsten Faktoren für inklusive digitale Interaktionen für blinde und sehbehinderte Menschen. Sie sind in die Kategorien Wahrnehmbarkeit, Verständlichkeit, Bedienbarkeit und Adaption unterteilt.
Um die Integration in Unternehmensprozesse zu vereinfachen, sind die Richtlinien zusätzlich zusammengefasst als Kartenset erhältlich. Diese können in Workshops, Meetings und Brainstorming-Sessions verwendet werden.
Case Study
Digitale Haushaltsgeräte
Für die Entwicklung, Evaluation und Verdeutlichung der Guidelines wurde eine Fallstudie entworfen, basierend auf drei Produkten. Zu diesem Zweck wurden bewusst Produkte ausgewählt, die für eine eigenständige Lebensführung unerlässlich sind: Digitale Haushaltsgeräte. Viele Haushaltsgeräte konnten in der Vergangenheit von blinden Menschen genutzt werden, während die Digitalisierung, zum Beispiel durch Touchscreen-Bedienoberflächen, weitgehend dazu führt, dass sie heute durch fehlende Kompensation des visuellen Sinns nicht mehr bedient werden können.
Diese drei Produkte haben jeweils einen unterschiedlichen Schwerpunkt bei der Anwendung der Guidelines. Dies zeigt, dass der “Beyond Visual Standard” auf vielfältige Weise für verschiedene Anwendungsfälle genutzt werden kann.
01 HapticStove – gefahrenlos spürbar.
Das Induktionskochfeld “HapticStove” ist ein inklusives Kochfeld, das durch seine Funktionalität, Interaktion und Bauform für Menschen mit starker Sehbeeinträchtigung eine gleichwertige Bedienbarkeit garantiert wie für Menschen mit vollständiger Sehfähigkeit. Der Name “HapticStove” beschreibt das bedeutendste Merkmal des Kochfeldes: seine haptische Erfassbarkeit und Bedienbarkeit. Trotz digitaler Funktionalität kommt die Bedienung des Produktes ohne grafische Bedienoberfläche aus.
Haptische Bedienung
Die intelligenten haptischen Bedienelemente sind klar den Heizquellen zugeordnet und bieten spürbares Feedback. Die Bedienelemente nutzen eine intelligente Topferkennung, um automatisch anzuzeigen, wo ein Behältnis platziert ist. Darüber hinaus ermöglichen die Hitzeindikatoren auf taktiler Ebene zu spüren, wo noch Restwärme vorhanden ist.
Sichere Exploration
Die Gefahrenbereiche, an denen Hitze entsteht, sind fühlbar und sicher abgegrenzt. Dadurch können selbst Personen mit vollständiger Blindheit diese Bereiche sicher mit ihren Händen zur Orientierung abtasten.
02 MultisenseCoffee – umänglich multimodal.
“MultisenseCoffee” ermöglicht es Menschen mit Sehbeeinträchtigungen trotz ihrer Einschränkung die vollständige Funktionalität einer modernen Kaffeemaschine zu nutzen. Die Interaktion mit dem Produkt verlagert sich gleichmäßig auf den Sehsinn, Hörsinn und Tastsinn. Diese Multimodalität unterstützt eine einfache und intuitive Bedienung für jeden Menschen mit einer Sinnesbeeinträchtigung. “MultisenseCoffee” lässt erweiterte Einstellungen für individuelle Vorlieben der Nutzer*innen zu und ermöglicht es diese zu speichern.
Multimodale Interaktion
Das haptische Bedienfeld und die Ausgabe von Informationen über auditive, taktile und visuelle Signale gewährleisten eine optimale Kompensation für sensorische Beeinträchtigungen. Einstellungen und Systemstatus sind sowohl sichtbar als auch fühlbar, und Fehlermeldungen wie “geringer Wasserstand” werden über drei Sinneskanäle übermittelt.
MemoryPucks
“MultisenseCoffee” ermöglicht nicht nur die Anpassung der Einstellungen nach individuellen Vorlieben, sondern ermöglicht auch das Speichern von Favoriten. Um diesen Prozess so einfach wie möglich zu gestalten, stehen sechs “MemoryPucks” zur Verfügung. Diese “MemoryPucks” zeichnen sich durch ihre Farbschemata visuell kontrastierend aus und sind aufgrund ihrer Formgebung taktil unterscheidbar. Durch einfaches Platzieren eines “MemoryPucks” können Favoriten gespeichert und leicht abgerufen werden. Die “MemoryPucks” dienen somit als physische Shortcuts und wiederholte Betätigung der selben Einstellungen werden abgekürzt.
03 AdaptiveOven – Individuell adaptierbar.
“AdaptiveOven” ist ein Backofen mit hoher Funktionalität, der in der Lage ist, sich Menschen unterschiedlicher Voraussetzungen anzupassen. Das wandelbare grafische Display in Kombination mit auditivem Feedback und dem zentralen haptischen Bedienelement sorgt für eine multimodale Bedienung und dynamische Anpassbarkeit der Interaktion mit dem Gerät. So sollen Menschen mit vollständiger Sehfähigkeit, wie auch blinde und sehbeeinträchtigte Menschen, gleichwertig mit dem Produkt interagieren können, nur auf unterschiedlich angepasster Weise.
Adaptive UI
“AdaptiveOven” kann seine grundlegende Interaktion an Menschen mit Blindheit oder schweren Sehbeeinträchtigungen durch einen vorprogrammierten Modus anpassen. Dieser Modus beeinflusst sowohl die visuelle Darstellung der Benutzeroberfläche als auch die Gewichtung der sensorischen Reize.
Im “StandardMode” (links) ist die Benutzeroberfläche stark visuell ausgerichtet und bietet Nutzer*innen einen detaillierten Überblick über alle Funktionen mit hohem Informationsgehalt. Im “AssistedMode” (rechts) wird die visuelle Darstellung von Informationen auf die wesentlichen Elemente reduziert. Ausgewählte Funktionen werden isoliert angezeigt, mit größerer Schriftgröße, Kontrast und visueller Eindeutigkeit. Auditive Rückmeldung erfolgt über den Sprachassistenten.
Linearer Bedienprozess
Für eine einfache und intuitive Bedienung können alle grundlegenden Funktionen des Ofens linear über das haptische Bedienelement gesteuert werden. Die einstellbaren Parameter können durch Drehen des Drehknopfes eingestellt und das Wechseln der Parameter durch Schieben des Drehreglers nach links und rechts getätigt werden.
Dynamische Haptik
Der Drehknopf verfügt über dynamisches haptisches Feedback. Abhängig von der Variation der Einstellungen passt er die Feinheit der fühlbaren Rasterung und den Widerstand dynamisch an. Dadurch werden verschiedene Einstellungen durch unterschiedliche taktile Empfindungen wahrgenommen und differenziert.
ProactiveSense
Die Funktion “ProactiveSense” erkennt die Situation der Nutzerinnen und passt die Anzeige von Informationen an, basierend darauf, ob Nutzerinnen vor dem Gerät stehen, sich davon entfernt haben oder sich überhaupt nicht im Raum befinden. Auf diese Weise können barrierefreie Funktionen, die ursprünglich für blinde Personen entwickelt wurden, Vorteile für jeden bieten, unabhängig von ihrer Sehfähigkeit.
Prototyping & Evaluation
Im Verlauf der Masterarbeit wurden die entwickelten Richtlinien in Zusammenarbeit mit Menschen mit Sehbeeinträchtigungen durch mehrere Low- und Mid-Fidelity Prototypen getestet, evaluiert und überarbeitet. Dieser Prozess ermöglichte das Schaffen eines fundierten und funktionalen theoretischen Rahmens für eine bessere und inklusivere Zukunft des Designs.
Universal Benefit
Die Guidelines bringen nicht nur Verbesserungen für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen, sondern für uns alle. Die folgenden Beispiele zeigen, wie multimodales Design uns dabei helfen kann, verschiedene Herausforderungen in unterschiedlichen Situationen zu meistern. Der “AdaptiveOven” mit seiner proaktiven Anpassungsfähigkeit hat das Potenzial, sich an verschiedene Lebenssituationen anzupassen. In Autos können Funktionen wie physische Shortcuts (vgl. “MemoryPucks”) dazu beitragen, die Bedienung des Infotainment-Systems zu vereinfachen und unseren Fokus auf der Straße zu halten. Multisensorisches Design ist auch in der Bildung vorteilhaft. Lernprozesse, bei denen der ganze Körper einbezogen wird, werden im Vergleich zum reinen Lesen eines visuellen Textes wesentlich besser gelernt und verinnerlicht.
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niki
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